„Um es kurz zu sagen, wir sehen nicht die Dinge selber, wir beschränken uns meist darauf, die Ihnen aufgeklebten Etiketten zu lesen“, schrieb der französische Philosoph Henri Bergson. Über diesen Satz habe ich schon nachgedacht, bevor ich mich dazu entschlossen habe, in zwei FKK-Clubs in Frankreich jeweils zwei Tage zu verbringen, um über das Thema „Nackt im Urlaub“ hier zu berichten.
„Wenn wir es recht überdenken, so stecken wir doch alle nackt in unseren Kleidern.“ Heinrich Heine
Egal, ob bei der Arbeit, in der Straßenbahn oder im Restaurant: Überall begegne ich Menschen angezogen, sehe, wie sie gekleidet sind. Gepflegte Markenklamotten mit schicker Uhr und Handtäschchen mit entsprechend teurem Logo oder ausgeleierte Jeans mit verwaschenem Sweatshirt und Stoffbeutel – um zwei Extreme zu wählen?
Wie begegne ich Menschen, die so unterschiedlich gekleidet sind? Anders? Wie beeinflusst das meine Sicht auf die Menschen und was wollen sie mir und den anderen Menschen um sich herum mit ihrem Kleidungsstil mitteilen?
„Dumm aus der Wäsche gucken… lässt sich durch permanenten Aufenthalt am Nacktstrand vermeiden!“ Willi Meurer
Weshalb kauft jemand eine Rolex für 30.000 Euro, wenn eine 40-Euro-Quarzuhr die Uhrzeit genauso präzise anzeigt? Was setzt die Frau für ein Statement, wenn auf der Handtasche das Prada-Logo prangt? Natürlich setzt auch jemand ein Statement mit ausgelatschten Turnschuhen oder Batik-Kleid aus dem Second-Hand-Shop.
Wenn sich jemand entschließt, Urlaub in einem FKK-Club zu machen, wird Mann/Frau all dieser Statements beraubt – von der Uhr vielleicht mal abgesehen.
„Man empfängt Menschen nach dem Kleide und entlässt sie nach dem Verstand.“ Karl Simrock
Inhaltsverzeichnis
Das größte Naturistencamp Europas – das Centre Naturiste Euronat
Also, los geht es. Zum Einstieg verbringe ich Mitte September zwei Tage in Europas größtem Naturistencamp, 80 Kilometer nördlich von Bordeaux, im Centre Naturiste Euronat. Die Anlage wurde 1975 eröffnet und liegt direkt an der Atlantikküste eingebettet in einen 335 Hektar großen Pinienwald.
Von der Rezeption bis zum Strand fährt oder geht man fast zwei Kilometer. Dazwischen liegen verschiedene Campbereiche weitläufig verstreut: Es gibt mehr als 1.400 Stellplätze, 1.200 Bungalows und 500 Mobilheime.
Wohnfertige Zelte, Lodges und Hütten, Mobil-Häuser, Chalets und Studios, Zelte, Wohnwagen- und Wohnmobilstellplätze. In der Mitte eine Art Dorfplatz mit Einkaufszentrum mit 25 Geschäften und Restaurants, Fitnessstudio, Friseur, Wäscherei, Fahrradverleih, Reitzentrum, Tennisplatz, Thalassotherapie-Zentrum, Spa mit Saunen, Hammam, Jacuzzi und Meerwasser-Pool.
In der Hochsaison wohnen hier ein paar Tausend Gäste. Jetzt, nach den Sommerfreien, sind die meisten Gäste Rentner, dazwischen ein paar Familien mit nicht schulpflichtigen Kindern und einige Paare, die weniger den Trubel als die Ruhe genießen möchten.
„FKK-Strände sind humanitäre Einrichtungen zur Aufhebung der Unterschiede zwischen Arm und Reich.“ Erwin Koch
Im Centre Naturiste Euronat sollen die Gäste nackt sein, doch es gibt keinen Zwang. Am Strand sind fast alle Gäste hüllenlos, beim Einkaufen ist etwa die Hälfte nackt beziehungsweise mehr oder weniger bekleidet, will heißen: Morgens beim Bäcker aufgrund der frischen Temperaturen haben einige Kunden einen Pulli und Schuhe an. In den Restaurants sind etwa zwei Drittel der Gäste bekleidet.
Das Argument einer Frau, die mit ihrem Mann hier zum dritten Mal Urlaub macht, leuchtet mir nach meinem ersten Restaurant-Besuch durchaus ein. „Mir wäre es lieber, wenn im Restaurant alle bekleidet wären, denn wenn jemand am Tisch verbeiläuft, sehe ich zwangsweise Dinge, die ich beim Essen nicht unbedingt sehen möchte.“
„Gott ist nackt.“ Seneca
Was mir direkt auffällt, ist, dass den Gästen Statussymbole offensichtlich nicht sehr wichtig sind: Die Autos neben den Wohneinheiten und Zelten sind eher praktisch und zwei bis fünf Jahre alt, als der nigelnagelneue Porsche.
Die Menschen im Club bewegen sich ungezwungen, egal wie alt und wie hübsch sie sind. Sie haben auch keine Scheu, sich mit den Menschen am Nachbartisch im Restaurant zu unterhalten.
„Nackt ist die Wahrheit am schönsten.“ Ulvi Gündüz
Vielleicht ist das Ehepaar aus der Nähe von Köln, das dort bis zur Rente ein Juweliergeschäft betrieb, typisch für diese Art von Urlaubsform: „Wir waren vor 40 Jahren mit unseren beiden Teenager-Töchtern in den Niederlanden am Strand. Die wurden heftig angebaggert. Da war daneben ein FKK-Strandabschnitt. Also sind wir am nächsten Tag dorthin. Die Atmosphäre dort war total anders. Nicht so sexuell aufgeladen. Seitdem machen wir nur noch FKK-Urlaub. Unsere Töchter mit ihren Kindern ebenfalls.“
„Im Gefühl zeigt sich der Mensch nackt.“ Marion Gitzel
Bevor ich mich entschlossen habe, die beiden FKK-Clubs in Frankreich zu besuchen, habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie ich da vielleicht taxiert werde und wie es auf mich wirken wird, wenn die Menschen um mich herum alle nackt sind.
„Liebe ist sich gestatten nackt zu sein.“ Anke Maggauer-Kirsche
Ich war verblüfft darüber, wie wenig das eine Rolle spielt. Überall auf dem Gelände begegne ich nackten Menschen, die sich völlig ungezwungen bewegen, die nach den gängigen Hochglanz-Zeitschriften-Maßstäben hübscher oder hässlicher, dicker oder schlanker sind als ich. Doch es scheint, als ob dieser Schönheitsmaßstab hier nicht so wichtig ist wie draußen vor dem Clubgelände, wo alle wieder angezogen sind. Diese Erfahrung hat mich verblüfft, denn damit habe ich nicht gerechnet.
„Wer nackt Würde zeigt, gibt sich keine Blöße.“ Klaus Ender
Eine Frau, Mitte 20, aus Niedersachsen bestätigt meine Einschätzung. „Ich mache hier mit meinen Eltern Urlaub seit meiner Kindheit. Als ich in der Pubertät war, habe ich immer einen Bikini getragen, weil es mir peinlich war, nackt zu sein. Doch als ich 18 wurde, fand ich es schöner, mich wieder komplett auszuziehen.“
Während sie sich auf dem Gelände nackt bewegt, trägt ihre Freundin, für die diese Urlaubsform neu ist, meist einen Poncho. Doch wie gesagt: Weder das eine noch das andere stört jemanden.
„Nur der Nudist kann nicht den Mantel nach dem Wind hängen.“ Rupert Schützbach
Die 10 Vorteile der Freikörperkultur
Während der Autofahrt zu dem zweiten Club, der 200 Kilometer weiter südlich vom Euronat Center Naturiste liegt, habe ich Zeit, über die zehn Punkte von „France 4 Naturisme“ nachzudenken, die sieben solcher Camps betreiben.
Naturismus geht auf unsere frühesten Ursprünge zurück und doch ist er heute, in unserer hochkultivierten Welt, zu einem Luxusgut geworden. FKK ist jedoch für jeden erreichbar; Sie müssen nur aus Ihrer täglichen Komfortzone heraustreten.
France 4 Naturisme verrät 10 Vorteile der Freikörperkultur.
- Es ist der beste Weg, der Natur näher zu sein, ein echtes Wohlgefühl zu erleben. Nach Hause kommen – Frieden und Ruhe garantiert.
- Naturismus und die Ausübung des Nacktseins, lassen Sie Ihren Körper akzeptieren und Hemmung loswerden. Dieses Gefühl des Wohlbefindens entwickelt sich jeden Tag ein wenig mehr.
- In einer Welt voller Einschränkungen erlaubt Ihnen die Nacktheit, sich völlig frei zu fühlen, frei wie ein Vogel, weit weg von allen Anforderungen der modernen Gesellschaft. Es ist ein großartiges Mittel, um wieder zu sich selbst zu finden.
- Genießen Sie das unvergleichliche Vergnügen des Nacktschwimmens. Verzichten Sie auf den Badeanzug oder die Badehose, die am Körper kleben, wenn Sie aus dem Wasser kommen!
- Naturismus ist nicht klassenorientiert; nackt sind wir alle gleich.
- Im Gegensatz zum aktuellen Materialismus entdecken wir uns beim Naturismus in unserer reinsten Form wieder.
- Nackt bräunen – der Genuss einer perfekten Bräune und kein einziger weißer Streifen.
- Alle nackt, was großen Respekt vor dem anderen bedeutet.
- Nackt zu leben bedeutet, eins mit der Natur zu sein.
- Naturismus ermöglicht es Ihnen, Ihre Schüchternheit zu überwinden und sich besser zu fühlen. Sie werden mit neuer Energie aus dem Urlaub zurückkommen.
Punkt zehn stimmt schon mal nicht. Ich bin Nacktsein nicht gewohnt und der frische Morgenwind an der Atlantiküste hat dazu geführt, dass ich mich leicht erkältet habe.
Logische Schlussfolgerung: Ich muss wohl mehr üben.
„Wer sich seiner Nacktheit schämt, bekam nur noch nicht mit, wie blamabel er angezogen aussieht.“ Martin Gerhard Reisenberg
Das Naturistencamp Naturiste Arnaoutchot
Also rein in das zweite Camp, das „Naturiste Arnaoutchot“ in Vielle St Girons, 135 Kilometer südlich von Bordeaux. Im Vergleich zu Europas größter Anlage, die ich zuvor besucht habe, wirkt hier alles gepflegter und neuer. Ist es auch.
Die familienfreundliche Anlage wurde 1972 eröffnet. Es gibt mehrere Spielplätze verteilt auf die ganze Anlage, so dass Eltern ihre auch kleinen Kinder alleine spielen lassen können, weil sie immer in Sicht- oder Hörweite sind.
„Nacktheit ist Wahrhaftigkeit.“ Klaus Ender
Auch hier wird Mitte September schon abgetakelt. Das Spa beispielsweise ist schon geschlossen, Läden und Restaurants haben lange Pausen und sind nur noch morgens und abends geöffnet. Doch die Wohneinheiten sind mit zwei Kochplatten und Kaffeemaschine und Kühlschrank ausgestattet – außerdem gibt es in den Dörfern der Umgebung Bäcker, Metzger, Supermärkte und tolle Restaurants. Und der Standabschnitt ist ein fast endloses Paradies.
Selbst in der Hochsaison liegen die nackten Urlauber nicht wie die Sardinen nebeneinander. Surfer stürzen sich in die Welle – entweder nackt oder mit Neoprenanzug. Wichtiger, praktischer Hinweis: Die Strände in beiden Camps liegen voll in der Sonne. Wer kein Sonnenanbeter ist, sollte Sonnenschirm, Standzelt etc. mitbringen.
„Die nacktesten Stellen eines Menschen sind in meinen Augen die Innenseiten der Handgelenke.“ Damaris Wieser
Mein Eindruck zu „Nackt im Urlaub“
Mein Fazit zu den jeweils zwei Tagen in den Clubs „Centre Naturiste Euronat“ und „Naturiste Arnaoutchot“ in der Nähe von Bordeaux: Das Nacktsein hat mich inspiriert, über mich, Konventionen, Statussymbole und Werte intensiv nachzudenken.
Die These des Sozialpsychologen Keon West, dass Nacktsein Wohlbefinden, Selbstwertgefühl sowie Glücksempfinden fördert, scheint mir nicht abwegig zu sein. Je mehr ich andere nackt sehe, desto eher stelle ich fest, dass nur die wenigsten Menschen dem aktuell verbreiteten Schönheitsideal entsprechen. Aber auch ökonomische Unterschiede und soziale Belastungen fallen dabei.
Egal, ob jemand Manager oder Schornsteinfeger ist, wir alle haben körperliche Makel. So wirkt das reine Nacktsein auch als psychologische Befreiung. Keon West fand in diesem Zusammenhang heraus, dass sich Naturismus sogar als Körper-Geist-Therapie eignet, um ein positiveres Selbstbild seines Körpers zu gewinnen, weil man die Angst, wie andere den eigenen Körper bewerten könnten, zunehmend hinter sich lässt. Das kann ich aus eigener Erfahrung in den vier Tagen bestätigen.
Offenlegung: Wir wurden von France 4 Naturisme auf eine Reise nach Frankreich eingeladen.
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